Sie werden mehr, sie werden jünger und sie kommen aus allen Schichten. Radikalisierung ist eine der aktuell größten Herausforderungen unserer Gesellschaft, wenn nicht sogar die Größte. Das Ruhrgebiet ist hierbei eine Region, die besondere Herausforderungen mit sich bringt. Warum das so ist und wieso sich Menschen überhaupt radikalisieren: Dieser Frage geht der renommierte Politikwissenschaftler Prof. Dr. Burak Çopur seit vielen Jahren nach. Seit 2023 ist er zudem Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention, das in Essen sitzt. Wir haben ihn interviewt.

Was genau macht ein Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention?

Ob Umsturzpläne der Reichsbürger, Kalifat-Rufe bei Großdemos in Essen oder der alarmierende Antisemitismus im Nahost-Konflikt: Die Themen Extremismus und Radikalisierung sind präsent wie noch nie. Was jetzt passiert, zeigt, wie wichtig und dringlich es ist, die Ursachen dafür zu erforschen und Lösungsansätze zu finden. Wir haben das Zentrum 2023 gegründet, um zu untersuchen, welche Erscheinungsformen radikaler Ideologien es gibt, welche Dynamiken dahinterstecken. Warum werden Menschen radikal, welche Faktoren befeuern dies, wo organisieren sie sich und verbreiten ihr Gedankengut?

Wer forscht in Ihrem Team?

Wir sind interdisziplinär aufgestellte Fachleute aus verschiedenen Bereichen wie Erziehungswissenschaft, Soziologie, Politik und Kriminologie, die gemeinsam zu den oben genannten Fragen forschen. Da wir einen klaren Fokus auf eine praxisorientierte Prävention setzen, gehört die enge Zusammenarbeit mit Kommunen und Wohlfahrtsverbänden unbedingt dazu. Aus der Stadt Dortmund haben wir bereits zwei Aufträge erhalten. Und selbstverständlich stehen wir auch der Polizei und Sicherheitsbehörden für Fragen und Austausch zur Verfügung.

Warum braucht das Ruhrgebiet, braucht Deutschland, so etwas aus Ihrer Sicht?

Das Ruhrgebiet ist ein Schmelztiegel verschiedenster Ethnien und Kulturen. Und das Herz des Ruhrgebiets ist Essen. Daher haben wir die Stadt Essen bewusst für das Zentrum ausgewählt. Salafisten, Dschihadisten, die Neonazi-Gruppe „Steeler Jungs“ und rechtsradikale Chatgruppen bei der Polizei, um nur einige Beispiele zu nennen: Im Ruhrgebiet zeigen sich gebündelt alle Formen der Radikalisierung, mit denen sich diese Region konfrontiert sieht.

Wo findet heute die Radikalisierung statt und wer ist am empfänglichsten dafür?

Natürlich findet Radikalisierung auch noch ganz „klassisch“ innerhalb der Familie und des Freundeskreises sowie entsprechenden Gruppierungen in Stadtteilen statt. In vielen Familien werden Ideologien über Jahre oder Jahrzehnte weitergegeben. Heute ist das Internet jedoch ebenfalls, vielleicht sogar noch stärker, eine treibende Kraft. Die sozialen Medien sind voll von radikalen Beiträgen in den verschiedensten Formen. Die Verbreitung ist gigantisch groß, schnell, auf den ersten Blick oft verschleiert und damit schwer zu fassen und zu verfolgen. Umso wichtiger ist es, ein großes Augenmerk auf das Netz zu legen, kriminologisch, aber eben auch für uns aus Forschersicht, um gezielt dort Prävention anzusetzen.

Wie könnte das aussehen?

Man kann sich zum Beispiel den verstärkten Einsatz von Anti-Radikalisierungs-Influencern auf Instagram, TikTok und Twitter vorstellen, damit vor allem die jungen Menschen im Netz aufgeklärt und gewarnt werden.

Sind junge Menschen insgesamt denn heute deutlich gefährdeter?

Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich sehen wir, dass sich in den letzten Jahren verstärkt jüngere Migranten radikalisieren. Aber genauso beobachten wir das auch bei Menschen der mittleren und älteren Jahrgänge bei Herkunftsdeutschen. Die Corona-Verschwörungstheoretiker etwa gehören dazu, ebenso wie ein Großteil der Reichsbürger. Und diese nehmen wiederum Einfluss auf die jungen Menschen. Zu Corona-Zeiten haben sich Verschwörungstheoretiker auch gezielt vor Schulen positioniert und dort Flugblätter mit ihren Ideologien verteilt.

Viele denken mittlerweile, dass der Zug schon abgefahren ist, sich bestimmte Formen der Radikalisierung gar nicht mehr aufhalten lassen…

Niemals dürfen wir so denken. Der Zug ist nie abgefahren. Menschen aufzuklären muss immer unser Ziel bleiben. Auf jeden, den wir erreichen können, kommt es an. Politische Bildung ist noch wichtiger denn je und muss ausgebaut und gestärkt werden. In Schulen und in den Hochschulen sollten Aufklärung und Prävention oberste Priorität haben. Dabei gilt: Nicht kleckern, sondern klotzen!

Wir haben 2024 wichtige und richtungsweisende Wahlen, die Europawahl, Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung in dieser Hinsicht?

Extremismus findet heute verstärkt auch in der Mitte der Gesellschaft statt. Nehmen wir die Deportationspläne, die Ende November 2023 in einer Potsdamer Villa geschmiedet wurden: Das waren keine Neonazis mit Glatze und in Springerstiefeln, das waren Ärzte, Geschäftsleute und Politiker. Die etablierte Politik ist gefordert, die sogenannte bürgerliche Mitte nicht zu verlieren. Sie muss der Politikverdrossenheit entgegenwirken, ohne dabei die rechten Ideologien zu übernehmen. Es braucht den klaren, gesellschaftlichen Gegenentwurf, der radikalen Parolen keinen Raum mehr bietet.

Was sagen Sie denen, die behaupten, die Integration in Deutschland und eben auch im Ruhrgebiet sei gescheitert?

Dass diese Resignation und Ablehnung absolut falsch sind. In vielen Punkten funktioniert Integration gut. Viele Migrantinnen und Migranten haben in Deutschland eine echte Heimat gefunden, sind sehr erfolgreich im Beruf, in der Schule, in der Wissenschaft, im Journalismus und in der Politik. Aber natürlich sind in der Integration wichtige Dinge auch verschlafen worden und es sind Fehler passiert, aber aus diesen kann man lernen. Die deutsche Bevölkerung will, das haben eben die vorbildlichen bundesweiten Demos gegen Rechts deutlich gezeigt, in einer Einwanderungsland leben. Wir sind ein Deutschland der Vielfalt, mit all den Vorteilen und eben auch den Herausforderungen. Wir müssen uns Letzteren nur stellen. Dazu gehören z.B. auch vermeintlich kleine Dinge, etwa, dass sich Verwaltung und Politik auch sprachlich auf die Vielfalt der Kulturen einlassen. Dass Migrantinnen und Migranten auch in diesen Bereichen noch viel sichtbarer werden. Dass Personal besser geschult wird, Angebote zum Austausch und zur Begegnung erweitert werden. Je mehr Ausgrenzung Migrantinnen und Migranten erfahren, desto leichteres Spiel haben Extremisten. Ausgrenzung führt zur Abgrenzung. Anerkennung und Wertschätzung sowie echte Partizipation sind hier nicht nur leere Worthülsen, sondern zentrale Ziele, um Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu erreichen.

Was verstehen Sie unter Partizipation?

Zum Beispiel eine echte Gleichberechtigung auf dem Wohnungs-, dem Arbeits- und dem Bildungsmarkt. Nur so entsteht das Gefühl, dass jeder Teil der Gesellschaft sein und seine Ziele erreichen kann. Integration ist keine Einbahnstraße der Anpassung. Es gilt, die Herzen zu gewinnen, damit sich Menschen zugehörig fühlen und Werte dann viel selbstverständlicher teilen, als wenn sie diese übergestülpt bekommen.

Was raten Sie Menschen, die sich im Umfeld, am Küchentisch, am Tresen in der Bar, plötzlich mit radikalen Ideologien konfrontiert sehen?

Ideologien entbehren Fakten und Argumenten. Und bei denen, die sich noch nicht richtig radikalisiert haben, können Aufklärung und faktenbasierte Interventionen helfen, radikalen Gedanken und Ideologien entgegenzuwirken. Wir müssen uns weiterhin trauen, unsere Meinung klar zu sagen und einzuschreiten, um Extremismus die Stirn zu bieten. Die Demos gegen Rechts waren hierzu ein klares Zeichen für eine wehrhafte Demokratie aus der Zivilgesellschaft.

 

Über Burak Çopur

Burak Çopur ist promovierter Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Integrations- und Migrationsforscher. Nach seinem Abitur studierte Çopur an den Universitäten Duisburg-Essen und University of New South Wales in Sydney/Australien. Im Bereich der Wissenschaft legte der Essener Politologe mithilfe eines Promotionsstipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung seine Doktorarbeit an der Universität Duisburg-Essen zu den deutsch-türkischen Beziehungen vor. Zudem wirkte Çopur zehn Jahre lang (2004-2014) als erstes türkeistämmiges Mitglied im Rat der Stadt Essen – u. a. als Vorsitzender des Integrationsausschusses – ehrenamtlich in der Kommunalpolitik aktiv mit. In dieser Funktion war er in seiner Heimatstadt der Initiator des ersten Welcome Centers für EinwanderInnen in NRW. Aktuell ist Çopur Professor an der IU Internationalen Hochschule (Standort Essen) und Lehrbeauftragter am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Integrations- und Migrationsforschung, Fragen der politischen (Jugend-)Bildung und Rassismuskritik. Seit 2023 hat er die Leitung des neuen Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention der IU Internationalen Hochschule in Essen übernommen. 2011 wurde Burak Çopur von einer Jury um die ehemalige Bundestagspräsidentin Prof. Dr. Rita Süssmuth zu einem der 100 erfolgreichsten Deutsch-Türken ausgewählt.

Anna Hag

Anna Hag wurde 1982 in Gladbeck geboren. Sie studierte Medienwissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Ruhr-Universität Bochum und ist Journalistin aus Leidenschaft, aktuell bei Raufeld Medien. Sie liebt spannende Menschen, emotionale Geschichten – und das Ruhrgebiet.

Autorenzeichnung: © raufeld / Martin Rümmele

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