Es gibt zwei Situationen in meinem Leben, in denen ich zur Löwenmutter werde: Wenn meine Tochter in Gefahr ist, und, wenn ich meine Heimat, das Ruhrgebiet, beschützen muss. Zum Glück ist meine Tochter im Pott sozialisiert, sie kann sich sehr gut selbst verteidigen. Aber seit ich denken kann, rümpfen Leute die Nase, sobald ich sage, dass ich aus Duisburg komme. Das Kuriose ist, dass es immer jene sind, die schlecht über das Ruhrgebiet reden, die noch nie da waren. Ich erinnere mich gut an die Reaktion eines Kollegen aus Bayern, mit dem ich für eine Reportage im Ruhrgebiet recherchiert habe. Er sagte: „Jetzt verstehe ich deine Liebe zum Ruhrgebiet.“ Erst neulich schrieb mir ein anderer Kollege, der zum ersten Mal in meiner Heimatstadt war: „First time in Duisburg. Was für tolle Menschen.“

Ich habe schon viel von der Welt gesehen, die Niagara Fälle, den Grand Canyon, die Golden Gate Bridge und die Fjorde von Norwegen, aber nirgends wird mein Herz tiefer berührt, als im Ruhrgebiet. Diese bizarre Schönheit von Industriekulissen lässt jeden Sonnenuntergang am Meer blass werden vor Neid. Schütteln Sie gerne den Kopf, aber das ist und bleibt für mich der Inbegriff von wahrer Romantik. Ich gebe zu, dass ich ein wenig befangen bin beim Schreiben dieses Textes. Zu viele Erinnerungen, die mich an die schönsten Orte des Ruhrgebiets zurückbringen. Zum Beispiel die eine Liebschaft, die mich mit den Worten „Hatice und Hattingen müssen sich einfach kennenlernen“ vor Jahrzehnten mit diesem magischen Ort bekannt gemacht hat. Gut, es ist nicht diese kitschige Hollywood-Romantik, aber wer will das schon? Es ist meine Sicht auf Heimat, jenseits von durchorchestrierten Beschreibungen. Heimat ist mehr als Folklore. Heimat hat einen Wert, ohne einen Preis zu haben. Treffen sich zwei aus dem Ruhrgebiet in der weiten Welt, fragen sie aneinander: „Samma, wo kommse wech?“ Ausm Pott, wattnsons? Wir Ruhris sind wie Kakteen in der Wüste. So robust, dass wir monatelang ohne Wasser auskommen. Aber wenn wir aufblühen, dann so sehr, dass sich jeder sofort in uns verliebt. Ich finde ja, die Kaktee sollte unser Wappen werden.

Wie oft ich gefragt werde, was für mich Heimat bedeutet. Die meisten erwarten dann, dass ich von der Schönheit Anatoliens erzähle, wo ich zwar geboren bin, aber als Zweijährige mit meinen Eltern Richtung Ruhrgebiet aufbrach. Das war mein großes Glück. Duisburg hat uns mit offenen Armen empfangen. Es hat lange gedauert, mein persönliches Heimatgefühl überhaupt in Worte fassen zu können. Oft habe ich mich gefragt, ob Heimat ein Ort ist oder vielleicht ein Gefühl. Heute kann ich sagen, dass meine Heimat mich geprägt hat, wo ich mit Werten ausgestattet wurde, um mich jederzeit woanders einbinden zu können. Was kann ich wohl meiner Tochter von meiner Heimat weitergeben? Das dichte Beziehungsgeflecht meiner Kindheit mit Verwandten, Freunden und Nachbarn gibt es in der globalisierten Welt kaum noch. Zumindest nicht in den großen Städten. Heimat in der Metropole kann nur funktionieren, wenn sie jenseits von Folklore gelebt wird. Dass man der Versuchung widersteht, das Vergangene zu verklären, und indem man Beziehungen am Wert und nicht am Preis bemisst. Nur so entsteht etwas Eigenes, das irgendwann in ein neues Heimatgefühl mündet. Heimat ist also weit mehr als ein Ort oder ein Gefühl. Heimat ist Anteilnahme.

Ich musste Anfang der 90er-Jahre sehr lange auf meinen Deutschen Pass warten. Als ich ihn endlich bekam, lud mich die Stadt Duisburg ins Rathaus ein. Dort ist mir feierlich die Einbürgerungsurkunde übergeben worden. Fast mein ganzes Leben lang lebte ich schon in dieser Stadt, und sie sagten: „Willkommen in Duisburg.“ Damit wurde mir klar, dass ich mich nur selbst um mein Heimatgefühl kümmern kann. Es würde niemand für mich tun. Und so entschied ich mich, dass das Ruhrgebiet meine Heimat ist, obwohl ich es schon vorher wusste. Aber es wurde von außen immer daran gerüttelt. Heute habe ich nicht mehr das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss, ob ich von hier bin. Ich sage selbstbewusst: Ich komme aus Duisburg. Ich bin Duisburgerin. Das geht mir übrigens viel einfacher über die Lippen, als zu sagen, dass ich Deutsche bin.

Heimat ist eine Frage, die sich erst im Alter wirklich stellt. Als Kind hat man nur das Gefühl: Hier möchte ich nicht weg. Irgendwann als Erwachsene will man dann doch weg. Aber das Gefühl, dort verwurzelt zu sein, das bleibt. Manche haben einen Gegenstand, der sie an ihre Heimat erinnert. Ich glaube, was Symbole angeht, bin ich etwas traumatisiert. Meine Eltern hatten überall Heimatsymbole. Wandteppiche, goldene Mokkagläser, all dieses Türkische, mit dem ich aufgewachsen bin, deshalb meide ich das. Als ich Duisburg Richtung Berlin verließ, haben mir Freunde ein Stück Kohle geschenkt. „Vergiss die Heimat nicht“, haben sie gesagt. Ich bin mit der Kohle immer wieder umgezogen, ich konnte sie einfach nicht wegwerfen. Aber im Grunde brauche ich nichts, um zu wissen, wo ich herkomme. Meine Liebe zum Ruhrgebiet ist bedingungslos. Wie es sich für echte Liebe gehört.

Hatice Akyün

Hatice Akyün wurde 1969 in Akpinar Köyü, Anatolien, geboren und kam 1972 mit ihrer Familie nach Deutschland. Als Journalistin begann sie bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Duisburg und arbeitete dann für das Magazin Max. Seit 2003 schreibt sie als freie Journalistin unter anderem für Spiegel, Emma, taz und den Tagesspiegel. Dort erscheint seit 2011 auch ihre Kolumne »Meine Heimat«. 2005 veröffentlichte Hatice Akyün ihr Buch Einmal Hans mit scharfer Soße, 2012 wurde der Bestseller verfilmt. 2008 erschien ihr zweites Buch Ali zum Dessert, 2013 bei KiWi der Spiegel-Bestseller Ich küss dich, Kismet. 2009 wurde sie mit dem Duisburger Toleranz- und Zivilcourage-Preis ausgezeichnet; ihr Blog Neulich in der Parallelwelt wurde für den Grimme Online Award nominiert. 2011 erhielt sie den Berliner Integrationspreis und 2013 den Sonderpreis für Toleranz und Integration der »Initiative Hauptstadt Berlin«. Hatice Akyün lebt in Berlin.

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